Vor Jahren schon schrieb Richard David Precht: „Wer bin ich ich? Und wenn ja, wieviele?“ Diese Fragen stellen sich heute immer mehr Menschen. Identität ist längst nicht mehr nur ein Fall für Schniedel oder Kein-Schniedel. Es geht darum, wie man sich fühlt. Als was man sich fühlt. Und wie man darüber spricht.

Lass uns über gendergerechte Sprache sprechen. Da ist ja gefühlt gerade alles in Bewegung. Wir haben die Welt verlassen, in der wir uns über „du“ und „Du“ Gedanken gemacht haben. Jetzt geht es um „er/sie/es“. Um Damen und Herren und alles dazwischen und daneben. Und die Frage: wo führt das hin?

Schau dir zum Beispiel Stellenanzeigen an. Da sehen die Überschriften aktuell ungefähr so aus: „Mechatroniker/In (m/w/d/k.A.) gesucht“. Und damit gehen die Probleme schon los. Ist die Berufsbezeichnung so noch ok? Darf man einfach ein „/in“ anhängen, um die weibliche Form zu zeigen? Und was ist mit den Diversen? Sind die durch gendergerechte Sprache auch ausreichend angesprochen, wenn man noch eine Klammer dahinter setzt? Haben wir noch jemanden vergessen? Könnte wer beleidigt sein?

Das ist ein Haufen Fragen. Und die Antworten? Die kennt infratest.

Die Meinungsforscher haben sich gut 1.000 Leute geschnappt und einfach mal gefragt, was die so von gendergerechter Sprache halten. Erstaunlicherweise war das Thema gut zwei Drittel der Leute wohl nicht sonderlich wichtig. Vermutlich beschäftigen die sich aktuell mehr mit ihrer Gasrechnung oder gehören einfach zur Gruppe: „War immer so. Ist gut so“ Oder die haben einfach kein Twitter und kriegen auch sonst nix mit.

Bei denen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, herrscht übrigens auch keine Einigkeit, aber das ist ja nichts Neues. Dafür ist es eben ein Diskurs. Spannend fand ich neben den typischen, erwartungsgemäßen Ergebnissen, dass das Gender Gap, also die Sprachpause in „Hörer_innen“, bei den Leuten gar nicht gut ankommt (69% dagegen). Und auch sowas wie „Bürger*innen“ in gedruckten Texten finden anscheinend viele (59%) der Befragten doof.

Bedeutet das jetzt, wir sollten es einfach sein lassen? Wieder zurück zu Lück, statt auf Biegen und Brechen die gendergerechte Sprache durchzudrücken? Diese Frage möchte ich mit einem Zitat von Henry Ford beantworten: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, sie hätten Kutschen mit mehr Pferden verlangt.“

Die Menschen sind langsam, sie brauchen Zeit. Natürlich springen die Massen nicht gleich wild jubelnd durch die Strassen, wenn sämtliche gelernten Formen der Anrede umgekrempelt werden sollen. Die Überlegungen, Sprache gerechter, gendergerechter! zu machen, sind im Kern wichtig und richtig. Aber wir haben den Weg noch nicht gefunden. Uns fehlt das Modell T, um im Ford Vergleich zu bleiben. Henry Ford hatte die richtige Einstellung, der Erfolg kam aber durch das Produkt. Und dieses „Produkt“ fehlt uns bei gendergerechter Sprache noch. Daran müssen wir arbeiten, wenn wir alle drei Drittel der Bevölkerung mitnehmen wollen.

Und weil es hier nicht nur ums Nach-Lesen geht, noch ein kleiner mentaler Schaukel-Schubser von mir zum Nach-Denken:

Alle ereifern sich, man solle doch jetzt bitte Ärztinnen, Journalistinnen und Politikerinnen sagen. Aber niemand fordert die Redaktionen auf, zukünftig in den Nachrichten die Worte Bankräuberinnen, Drogendealerinnen und Raserinnen zu nutzen…


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